„Der tuat eh nix!“

16.10.2025 – Christoph Krischanitz ist mit dem Hund unterwegs. Ein anderer Hundebesitzer kommt entgegen, erkundigt sich nach dem Geschlecht des Hundes und versichert daraufhin: Wenn ’s kein „Manderl“ ist, wird sich sein eigener Vierbeiner zu benehmen wissen. Aber: Wie will er sich da eigentlich so sicher sein? Krischanitz geht dieser Frage im Folgenden auf versicherungsmathematische Art auf den Grund.

Spaziergänge an der frischen Luft sind erquickend. Manchmal auch erhellend.

Neulich traf ich bei meiner morgendlichen Runde mit meinem Hund auf einen (Floridsdorfer) Besitzer eines Rottweilers. Schon von ferne fragt er: „Iss’ a Manderl?“ Auf meine Verneinung antwortet er: „Daun is guad. Er tuat eh nix!“

Das wirft Fragen auf

„Er tuat eh nix.“ Spannend, wie viele Fragen sich aus diesen 4 kurzen Wörtern ergeben können. Abgesehen von der Frage, was jetzt passieren würde, wäre mein Hund tatsächlich männlich, haben sich vor allem drei Fragen festgesetzt.

  • Erstens: Was heißt eigentlich „nix“? (Ab welcher Eskalationsstufe wird aus dem „nix“ denn ein ‚etwas“, sprechen wir von „Zerfleischen“ oder zählt auch schon ein kleiner zärtlicher Biss?)
  • Zweitens: Wieso verwendet er das Wörtchen „eh“? (Ist der Generalverdacht, jetzt könnte es gefährlich werden, vielleicht berechtigt?)
  • Drittens: Woher will er das eigentlich wissen? (Dass der Hund nix tuat.)

Eine statistische Würdigung tut not

Letztere Frage ist tatsächlich statistischer Natur und damit einer Würdigung wert.

Die Aussage beruht natürlich auf Beobachtungen. 100-mal (zum Beispiel) war man in derselben Situation und nie hat er was g’macht (oder zumindest nicht sehr oft …). Was können wir daraus über das 101. Mal lernen?

Für einen Hund, der im Schnitt jedes 10. Mal zuschnappt, ist die Wahrscheinlichkeit, die ersten 100 Male nicht gebissen zu haben, sehr gering (zirka 0,0027 %). So ein Hund wird das jetzt ja wohl nicht sein.

Aber für mehr als ein Drittel aller Hunde mit Beißwahrscheinlichkeit von einem Hundertstel passiert die ersten 100 Male gar nix. Also könnte es ein solcher Hund sein. Aber dann würde er auch jetzt nur mit Wahrscheinlichkeit 1:100 zubeißen. Also safe?

Die Frage der Beißwahrscheinlichkeit

Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Christoph Krischanitz
(Bild: Krischanitz)

Nun, wir kennen die Beißwahrscheinlichkeit des Hundes nicht. Wenn er tatsächlich 100-mal in vergleichbarer Situation nicht gebissen hat und sich rein vom Zufall lenken lässt, dann können wir uns halbwegs sicher fühlen.

Dann ist nämlich die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er eine geringe Beißtendenz hat. Und grad jetzt bei uns, wird’s ja hoffentlich nicht passieren. Ein Restrisiko bleibt (immer!).

Eine komplexe Situation

Bis jetzt haben wir in unseren Überlegungen aber einiges vereinfacht.

Der Ruf „Iss‘ a Manderl?“ lässt ja darauf schließen, dass der Hund nicht in jeder Situation gleich reagiert. Es könnte also sein, dass er gegenüber Männchen eine hohe Beiß- oder Zerfetz-Wahrscheinlichkeit hat, gegenüber Weibchen ist er aber schmusesanft und beißt nur, wenn er sich wirklich nicht mehr zu helfen weiß.

Seine Wahrscheinlichkeit zur Aggressivität ist also keine Konstante, sondern sie ist von äußeren Bedingungen abhängig. Offenbar vom Geschlecht des hündischen Gegenübers, aber vielleicht auch von seinem Hunger, von seiner Müdigkeit, von der Lufttemperatur, von der Behandlung durch sein Herrl oder einfach von einer spontanen Laune.

In so einer komplexen Situation genügt ein einfacher Erfahrungswert aus den letzten 100 Malen nicht, da ja vermutlich immer andere Bedingungen geherrscht haben.

Normale versicherungsmathematische Gedankenläufe

Für uns Versicherungsmathematiker sind das ganz normale Gedankenläufe.

Denn die Wahrscheinlichkeit, mit dem Auto einen Unfall zu verursachen, sich beim Wandern ein Bein zu brechen oder sich eine schwere Krankheit einzufangen, folgt ganz genau den gleichen Denkmustern. 100-mal is nix passiert! Warum grad jetzt?

Mit einer großen Anzahl an ähnlichen (wir sagen „gleichartigen“) Individuen, kann man systematische Muster erkennen, welche externen oder internen Faktoren ausschlaggebend für eine hohe Wahrscheinlichkeit sind, ein Unglück zu erleben.

Wenn wir 100.000 Rottweiler und ihre Bissgewohnheiten beobachten können, dann sind wir in der Lage, die Gefährlichkeit einer Situation recht genau einzuschätzen. Aber auch dann nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.

Modellieren, Mischen, Übergangsparameter

Wir bilden dann „Strukturparameter“, die die unterschiedlichen Reaktionen modellieren, und „mischen“ externe Wahrscheinlichkeitsverteilungen in die Schadenwahrscheinlichkeit.

Möglicherweise hat man auch noch Übergangswahrscheinlichkeiten, wenn für einen gewissen Zustand nur eine begrenzte Möglichkeit an Folgezuständen besteht.

Das ergibt oft recht komplexe Modelle, die man über klassische statistische Modelle oder aber auch über Machine-Learning-Ansätze abbilden kann.

Problematische Selbsteinschätzung

Selbsteinschätzungen aufgrund historischer Beobachtungen einzelner Individuen, ob Hunde oder Menschen, führen oft nicht zur richtigen Schlussfolgerung. Die meisten Attentäter überraschen ihre unmittelbare Umgebung, „das können wir uns gar nicht zusammenreimen, der war immer so ruhig und freundlich“. Er tuat eh nix.

Das Schätzen überlassen wir am besten den Aktuaren.

Sicherer fühlt man sich jedenfalls durch eine Versicherung oder auch durch einen Beißkorb …

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

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