Es ist wahrscheinlich unwahrscheinlich

28.11.2024 – Risikomanager haben die Aufgabe, seltene oder gefährliche Ereignisse zu identifizieren und eine Wahrscheinlichkeit und ein mögliches Ausmaß ihres Eintritts zu finden. Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz über das Eruieren von Wahrscheinlichkeiten und die Leichtigkeit, Fehlschlüssen aufzusitzen – Teil 5 der Statistik-Serie.

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Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Versicherungsmathematiker
Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)

Was ist eigentlich eine Wahrscheinlichkeit? Wir verwenden diesen Begriff in unserem Alltag sehr oft, beinahe schon inflationär, und viele unserer Entscheidungen begründen wir auf Aussagen wie: „Das ist sehr unwahrscheinlich.“

Bei manchen Quizsendungen darf das Publikum mitraten, bei schwierigen Fragen wird der Publikumsjoker gezogen, jemand aus dem Publikum steht auf, gibt seine vermutete Antwort, und auf die Frage, wie sicher die Antwort sei, kommt dann selbstbewusst die Einschätzung: „80 Prozent – oder vielleicht 85 Prozent.“

Für mich als Mathematiker bleibt da immer die Frage offen, wie kommt man zu so einer Einschätzung?

Laplace und das Symmetrieprinzip auf dem Fußballfeld

Es ist lange bekannt, dass Menschen Probleme haben, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen, das Bauchgefühl funktioniert da überhaupt nicht.

Vielleicht kennen Sie das Beispiel, das häufig im Mathematikunterricht gebracht wird: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Fußballmatch zwei Personen am gleichen Tag Geburtstag haben?“

Dazu muss man wissen, bei einem regulären Fußballmatch befinden sich 23 Personen auf dem Feld, 22 Spieler und ein Schiedsrichter. Wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass zwei von diesen 23 Personen am gleichen Tag Geburtstag haben?

Bei einer Auswahl von 365 Tagen (wenn man Schaltjahre vereinfachend weglässt) widerstrebt es uns, diesem Ereignis eine hohe Wahrscheinlichkeit beizumessen, tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit aber über 50 Prozent.

Das ist einfach zu rechnen, aber fast unmöglich zu glauben. Man rechnet hier nach dem aus der Schule bekannten klassischen („Symmetrie“-)Prinzip von Laplace (Pierre-Simon Laplace, 1749–1827, war ein französischer Mathematiker), indem man günstige durch mögliche Fälle dividiert, oder in diesem Fall eher ungünstige durch mögliche von 100 Prozent abzieht.

Tortenlieferung mit von Mises’ Häufigkeitsprinzip

Einfacher wäre es, wenn wir Hochzeitstortenlieferanten wären, die die Aufgabe haben, bei jedem Fußballspiel mit gemeinsamen Geburtstagen eine Torte zu liefern.

Dann würden wir bald merken, dass wir durchschnittlich bei jedem zweiten Spiel tätig werden müssten, und unsere Erfahrung würde gegenüber der Intuition Oberhand gewinnen.

Wir würden dann eher nach dem statistischen („Häufigkeits“-)Prinzip des österreichisch-US-amerikanischen Mathematikers Richard Edler von Mises (1883–1953) vorgehen, das besagt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses aus der relativen Häufigkeit ihres Vorkommens definiert wird.

Beide Prinzipien führen zu einem äquivalenten Wahrscheinlichkeitsbegriff, der in der reinen Mathematik allerdings abstrakt über die Kolmogorow’schen Axiome eingeführt wird (Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow, 1903–1987, sowjetischer Mathematiker).

Wahrscheinlichkeit ist nichts anderes als ein normiertes Maß

Für Mathematiker ist eine Wahrscheinlichkeit nichts anderes als ein „normiertes Maß“. Ein „Maß“ ordnet einer Menge/Information/etc. eine (positive) Zahl zu, sodass das Maß einer größeren Menge die Summe der Maße ihrer Teile ergibt.

So wie das Gewicht zweier Äpfel die Summe der Gewichte der beiden Äpfel ist, der Preis für fünf Getränkeflaschen fünf mal dem Preis für eine Getränkeflasche entspricht, und die Wassermenge die durch eine Flotte verdrängt wird, die Summe an Wasser ist, das durch jedes einzelne Boot verdrängt wird. Gewichte, Preise, Volumina sind typische mathematische „Maße“.

„Normiert“ heißt einfach, dass die Wahrscheinlichkeit für „alles“ 1 ist und für „nichts“ 0 (echte Mathematiker mögen mir diese Vereinfachungen verzeihen).

Risikomanager haben die Aufgabe, seltene oder gefährliche Ereignisse zu identifizieren und dann mittels „Expertenmeinung“ eine Wahrscheinlichkeit und ein mögliches Ausmaß zu finden. Wie also bestimmen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Ereignis eintritt?

Psyche vs. Ratio

Wenn es Daten dazu gibt, dann lässt sich das statistische Prinzip anwenden und man kann die Häufigkeit abschätzen. Leider gibt es nicht immer ausreichend Daten, dann sollten wir Laplace bemühen, aber da spielt uns wieder die Psychologie einen Streich. „Spielerfehlschluss“ nennt man das zum Beispiel. Und von diesen Fehlschlüssen gibt es einige.

Warum wird nach einem Naturkatstrophenschaden mehr Versicherungsschutz eingekauft, als vorher? Weil man intuitiv die Wahrscheinlichkeit höher einschätzt, wenn man davon unmittelbar in den Nachrichten hört (plötzlich bekommen die [un]günstigen Fälle ein Übergewicht in der Wahrnehmung).

Nach einiger Zeit flacht das wieder ab („aus den Augen, aus dem Sinn“), die Wahrscheinlichkeit wird als geringer eingeschätzt, die unmittelbare Bedrohung nicht wahrgenommen.

Es geht aber auch umgekehrt. Ein ungünstiges Ereignis ist eingetreten, wir haben Glück gehabt, das Schicksal hat sich jemanden anders geholt. Jetzt sind wir sicher. Oder ein Ereignis ist schon lange nicht mehr eingetreten, jetzt muss es aber bald kommen (erinnert Sie das ans Roulette-Spiel?).

Above-Average-Effekt

In all diesen Fällen spielt die Psyche der Ratio einen Streich, denn im Allgemeinen sind die Ereignisse voneinander unabhängig, beeinflussen also nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern nur unsere Wahrnehmung.

Diesen Effekt („Above-Average-Effekt“) kann man auch in sozialpsychologischen Studien finden, wenn beispielsweise bei einer vom Guardian in Auftrag gegebenen Umfrage in London 98% der Teilnehmer angeben netter zu sein als andere.

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Der nächste Teil der Serie erscheint in zwei Wochen.

Serie „Statistik verstehen“ – bisher erschienen

Leserbriefe zum Artikel:

Rudolf Mittendorfer - Wahrscheinlichkeit, Convenience und Begleitmusik. mehr ...

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