11.2.2019 – Der Wachstumseinbruch, der mit der Finanzkrise ab 2008 einsetzte, ist auch heute noch nicht wieder aufgeholt, stellt eine vom Wifo veröffentlichte Analyse fest. Die Krise hat sich überdies ungewöhnlich entwickelt: Gemessen an früheren Krisen müssten die wirtschaftlichen und politischen Effekte, bereits überwunden sein. Am plausibelsten erscheine die Erklärung, dass es nach 2008 zu einer „Kumulierung verunsichernder Schocks“, bis herauf zum Brexit und dem Regierungswechsel in Italien, gekommen sei.
Vor nun mehr als zehn Jahren hat die Finanzkrise ihren Anfang genommen – und auch die Versicherungsbranche in einem entscheidenden Punkt geprägt, nämlich in der Entstehung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD), die in die Hochphase der Krise fiel.
So steht in einem der ersten Erwägungsgründe, die der IDD vorangestellt sind: „Die derzeitigen und jüngsten Turbulenzen auf den Finanzmärkten haben verdeutlicht, wie wichtig ein wirksamer Verbraucherschutz in allen Finanzbereichen ist.“
Es sei daher „angebracht, das Vertrauen der Kunden zu stärken und die Regelung des Vertriebs von Versicherungsprodukten einheitlicher zu gestalten, damit EU-weit ein angemessenes Maß an Kundenschutz besteht“.
Besonders sichtbar werden diese Aspekte in den tiefgreifenden Regelungen zu Versicherungsanlageprodukten, Interessenkonflikten und Informationspflichten.
Indes sind die Folgen der Krise auch ein Jahrzehnt nach ihrem Ausbruch noch immer nicht ganz abgearbeitet, wie aus einer vom Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) veröffentlichten Analyse von Prof. Gunther Tichy hervorgeht.
Die Finanzkrise ließ, so der Rückblick, das reale Bruttoinlandsprodukt Österreichs 2009 um fast vier Prozent schrumpfen, 2012 bewirkte die Staatsschuldenkrise im Euroraum eine weitere Abschwächung.
„Das Niveau der Wirtschaftsleistung ist derzeit um nur zehn Prozent höher als vor zehn Jahren und liegt um gut ein Zehntel unter dem (verlängerten) Vorkrisentrend“, fasst das Wifo den Ist-Zustand zusammen.
Gemäß der mittelfristigen Wifo-Prognose werde das BIP in den nächsten Jahren um zwei Prozent pro Jahr wachsen. „Der Wachstumsrückstand wird damit auch in der Periode 2017/2023 nicht aufgeholt werden.“
Die auf die Finanzkrise folgende anhaltende Trendabsenkung entspreche nicht den bisherigen Erfahrungen. Sie erscheine aus zumindest drei Gründen erklärungsbedürftig:
Liegt eine Erklärung dafür in verzögerter Anpassung? Dagegen spreche „nicht bloß die überdurchschnittliche Dauer, sondern vor allem das Fehlen jeglicher Annäherungstendenz“.
Liegt es an unzureichender Nachfrage? Dies könne bestenfalls einen (kleinen) Teil des mangelnden Aufholprozesses erklären: „Konsum und Export liegen zwar deutlich unter ihrem Vorkrisentrend, doch die gute Kapazitätsauslastung und die optimistische Einschätzung der Konjunktur lassen keine generelle Nachfrageschwäche erkennen.“
Liegt eine Erklärung in Strukturschwächen? Dafür spreche „die markante Verlangsamung des Produktivitätswachstums“.
Mit den verschiedenen Ansätzen könne man zwar die mangelnde Annäherung an den Vorkrisentrend erklären, nicht aber dessen abrupte Absenkung.
Eher, so die Analyse, könnte die These eines Strukturbruchs infolge geänderter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen eine Erklärung liefern.
Folgende Punkte werden dabei ins Treffen geführt:
„Sie haben den Verlust der Marktdominanz der westlichen Industrieländer zur Folge, ein Phänomen, das durch die Finanzkrise schockartig bewusst wurde.“
Am ehesten plausibel erscheine die These, dass Trendabsenkung und Trendbruch die Folgen einer „Kumulierung verunsichernder Schocks“ sind: nach dem Verlust der Marktdominanz der Schock der Finanzkrise 2008, der Euro-Schuldenkrise (2012), der Migrationskrise (2015) und der Brexit-Abstimmung (2016).
Zudem habe mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten Ende 2016 und dem Regierungswechsel in Italien 2018 „eine Periode generell verunsichernder und EU-kritischer Politik“ eingesetzt.
Dies – und der Fachkräftemangel – dürfte bei Unternehmen und Politik eine Revision der längerfristigen Wachstumserwartungen ausgelöst haben.
„Offenbar sehen die Unternehmen die Niveauabsenkung der Wirtschaftsaktivität und die Abwanderung von Märkten (vor allem nach Asien) unter den gegebenen Umständen als ‚normal‘ an und haben ihre Pläne darauf abgestellt.“
Überdies sei das Wachstum etwas rascher als erwartet ausgefallen, die Gewinnlage gut und die Kapazitätsauslastung befriedigend gewesen – mit der Folge, dass der Pessimismus geschwunden und Investitionen nachgeholt worden seien.
Da sich die Arbeitsmarktlage bei anhaltendem Wachstumsrückstand eher verschlechtern werde, sei die Wirtschaftspolitik in einer schwierigen Situation.
Der Spielraum der Nachfragepolitik sei eng begrenzt, „sie könnte bestenfalls sehr selektiv und nachhaltig vorgehen (etwa Verbesserung der Infrastruktur, Risikoabsicherung im Export)“.
Zur Milderung des Strukturbruchs müsse gegen die Verdrängung auf strategisch wichtigen Märkten angekämpft werden. An Stelle von Handelsbeschränkungen und nationaler Abschottung erscheine eine Forcierung der Technologiepolitik als adäquate Strategie.
„Effizient und erfolgreich kann eine solche Politik vor allem auf EU-Ebene geplant und durchgeführt werden.“
Manche Strukturänderungen, etwa „die zunehmend ungleiche Einkommensverteilung oder der Trend zur Dominanz der Finanzmärkte („financialisation“)“ könne man aber auch auf nationalem Weg zumindest mildern.
In Österreich setze dies „vor allem Maßnahmen im Bereich der Exportstruktur und der dahinterliegenden Produktionsstruktur sowie der Verteilung“ voraus.
„Die Politik sollte rascher als bisher auf die neuen weltwirtschaftlichen Herausforderungen reagieren, die Struktur auf rasch wachsende Märkte und Produktkategorien umorientieren und die Effizienz generell steigern“, so die Schlussfolgerung.
Die Analyse „Die nachhaltigen Folgen der Finanzkrise“ ist im Wifo-Monatsbericht 1/2019 erschienen.
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