13.12.2024 – Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz setzt sich im sechsten Teil der Statistik-Serie mit Wachstumsraten und der Euler’schen Zahl auseinander – und erklärt, warum eine „exponentielle“ nicht automatisch eine „rasante“ Veränderung“ ist.
„Zuerst verläuft es flach, dann wird es exponentiell …“ Wie geht es Ihnen mit diesem Satz? So oder so ähnlich haben wir den Satz einige Male in den Medien und von Politikern während der Corona-Pandemie hören dürfen. Mich schaudert es noch immer. Verwundert frage ich: „Wo war da der Herr Bildungsminister?“
Also, auch flache Kurvenstücke können ein Teil einer exponentiellen Kurve sein. Sind sie eigentlich immer. Etwas, was immer gleich steil ist, nennt man linear. Exponentialität zeichnet sich dadurch aus, dass die „Steilheit“ sich ändert, und zwar immer abhängig davon, was man gerade hat oder wo man sich befindet.
Wie bei den Zinsen am Sparbuch. Je mehr Geld am Sparbuch, desto höher der Betrag, der durch Verzinsung aufgeschlagen wird. Die „Verzinsung“ selbst bleibt gleich, 0,5% oder 3%, je nachdem, wo Sie ihr Sparbuch liegen haben. Eine Verzinsung mit 1 Prozent von 10 Euro (also 10 Cent) ist natürlich ein „flacherer“ Anstieg, als eine gleiche Verzinsung von einer Million Euro (also Zinsen in Höhe von 10.000 Euro). „Flach“ ist also relativ.
Das Gleiche gilt für die Infektionsrate beim Corona-Virus, für die Ausdehnung des Universums, für die Kettenreaktion bei der Atombombe und bei der Anzahl der Nutzer von KI.
Das Wunderbare bei diesen Wachstums- und Zerfallsprozessen ist diese ominöse Euler’sche Zahl e, ohne die die Wissenschaft noch immer in der Steinzeit wäre. 2,71828182… und so weiter. Eine irrationale Zahl, das heißt nicht durch einen Bruch darstellbar (also auch kein Teil von einem großen Ganzen). Ähnlich wie Pi, die andere faszinierende Größe der Mathematik.
Aber wo kommt e eigentlich her und was hat diese Zahl mit Verzinsung zu tun? Stellen wir uns vor, jemand gibt Ihnen eine Verzinsung von 1, also 100 Prozent (das erfordert einige Vorstellungskraft im täglichen Leben, aber die Mathematik lebt davon).
Aus einem Euro werden daher 2 = (1+1). Nun verhandeln wir und sagen, wir wollen die Zinsen nicht am Ende des Jahres, sondern halbjährlich mit Zinseszins. Wir bekommen also zur Jahresmitte den halben Zinssatz = 50 Cent drauf und diese 1 Euro 50 Cent werden das zweite halbe Jahr ebenfalls mit 50 Prozent verzinst. Am Jahresende haben wir dann 1,5*1,5 = 2,25 Euro. Das zahlt sich also aus.
Also verhandeln wir, dass wir das nun vierteljährlich machen, nach obiger Logik wären das dann 1,25*1,25*1,25*1,25 = 2,4414. Das sieht sehr gut aus. Nun machen wir das monatlich, also zwölfmal mit einer Verzinsung von 100 Zwölftel und wir bekommen plötzlich 2,6130. Voller Enthusiasmus handeln wir uns nun tägliche Verzinsung heraus mit dem Ergebnis 2,7146.
Fällt Ihnen etwas auf? Mit jeder weiteren Verfeinerung nähern wir uns schrittweise der Eulerschen Zahl e. Würden wir auf Stunden, Minuten oder gar Sekundenbasis verzinsen, erhielten wir (annähernd) e als Endkapital. Mehr aber nicht, dieses e ist also auch gleichzeitig die Obergrenze der Zinseszinsrechnung bei Anfangskapital 1 und Zinssatz 100 Prozent.
Was passiert nun bei einem Zinssatz von 3 Prozent? Nun, da erhielten wir bei gleicher Vorgangsweise e^0,03, bei 5 Prozent erhielten wir e^0,05 und so weiter. e^lambda halt, wie der Mathematiker sagt.
K*e^(lambda*x) beschreibt somit das Wachstum des Anfangskapitals K bei Wachstumsrate lambda nach x Zeiteinheiten. Und wenn die Wachstumsrate negativ ist, dann verlieren wir Kapital nach dem gleichen Muster. Also mehr zu Beginn, wo noch viel da ist, und weniger später, wenn das meiste schon weg ist. Es wird also „flacher“ – und ist trotzdem „exponentiell“.
Ich kann mir eine Finanz- und Versicherungsmathematik ohne e nicht vorstellen, da diese Größe die Ableitung komplizierter Inhalte und das Rechnen damit so sehr vereinfacht, dass vieles, was für uns jetzt ganz normal ist, nie entdeckt oder erfunden worden wäre.
Biologie, Astronomie, Medizin, Sozialwissenschaften, Informatik: Alle profitieren von der Zahl, deren vollständige Bedeutung Leonhard Euler erkannt hat und die deshalb nach ihm benannt ist, auch wenn John Napier und Jakob Bernoulli schon früher auf sie gestoßen sind.
Ich habe vorhin die Kreiszahl Pi (3,14159…) angesprochen. Damit will und kann ich Ihnen nicht die für Mathematiker schönste und tiefgreifendste Formel vorenthalten, in der sich alles, was für die Mathematik wichtig ist, zusammenfassen lässt:
e^(pi*i) + 1 = 0
In dieser Formel sind die wichtigsten Zahlen der Mathematik vertreten:
Diese Formel, so klein und kompakt sie auch ist, enthält eine Addition, eine Multiplikation und eine Potenzrechnung, also die wichtigsten Rechenoperationen. Für Mathematiker ist sie ein Wunder. Benjamin Peirce, einer von Harvard’s führenden Mathematikern des 19. Jahrhunderts, sagte zu seinen Studenten:
„Gentlemen, that is surely true, it is absolutely paradoxical; we cannot understand it, and we don’t know what it means. But we have proved it, and therefore we know it must be the truth.“
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
Der nächste Teil der Serie erscheint im Jänner 2025.
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