Sozialsysteme: „Nichtstun geht auf keinen Fall“

15.10.2025 – Es sei Aufgabe der Politik, Strukturen zu schaffen, die die Systeme absichern, so Hans Jörg Schelling. Im Bereich der Gesundheit würden die Reformvorschläge auf dem Tisch liegen, bei den Pensionen brauche es Anreize für längeres Arbeiten und private Vorsorge und die häusliche Pflege müsse attraktiviert werden.

Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling beim Trandtag (Bild: VJ)
Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling beim Trandtag (Bild: VJ)

Der ehemalige Finanzminister und Top-Manager Hans Jörg Schelling befasste sich in seinem Vortrag „Sozialstaat am Wendepunkt“ beim Asscompact-Trendtag in der Vorwoche mit der Frage, welche Reformen jetzt dringend notwendig sind.

In der Politik herrsche der Grundsatz, die Themen Pensionen und Gesundheit nicht anzurühren – aus Sorge, Wahlen zu verlieren, so Schelling einleitend. Dies sei aber falsch und es sei ihm unerklärlich, warum Politiker dies nicht begreifen.

Häufig werde in der Diskussion salopp von „öffentlicher Hand“ gesprochen, tatsächlich komme das Geld aber von den Steuereinnahmen: „Die Quelle allen Geldes sind die Bürger.“ Noch decke der größte Teil der Beiträge die Pensionen, doch das werde sich dramatisch ändern.

Denn das Pensionsantrittsalter liege heute wie vor 45 Jahren bei 60, die Lebenserwartung ist in diesem Zeitraum aber von 68 auf 84 Jahre gestiegen, betont Schelling. Es müsse niemand nachrechnen, dass sich hier ein Gap ergibt.

Geldmangel macht Reformen nötig

Die Sozialversicherungssysteme seien solidarisch entstanden, und lange Zeit sei sich „das auch ausgegangen“. Wer allerdings jetzt nicht bereit sei, Reformen zu setzen, fahre die Modelle „an die Wand“.

Um vorausschauend zu agieren, müsse die geopolitische Lage betrachtet werden. Angesichts von Deindustrialisierung, der hohen Kosten für den Klimaschutz und der enormen Summen, die für die Verteidigung nötig sind, „bleibt kein Geld, um soziale Dinge zu tun“.

Allerdings: „Wir alle wollen eine gute Krankenversicherung, sichere Pensionen und Pflege“, sagt Schelling. Das bedeute gleichzeitig auch „drei Baustellen“. Nötig sei es, „mutig in die Reformkiste“ zu greifen.

Einfache Reformen für das Gesundheitssystem

Im Bereich der Gesundheit würden die notwendigen Reformen auf dem Tisch liegen und seien machbar, so Schelling. Gesundheit sei aber ein Geschäft, 11,8 Prozent des BIP würden die Gesundheitsausgaben betragen, und davon „wollen viele etwas kriegen“.

Es sei möglich, die Kosten im Gesundheitsbereich mit einfachen Reformen in den Griff zu bekommen. Beispielhaft nennt Schelling eine Strukturreform der stationären Versorgung: „Das Teuerste ist die Vorhalteleistung für das Bett.“ Wichtig wäre eine Umstellung auf eine tagesklinische Behandlung.

Aber auch andere Reformen könnte man sofort angehen, der Zeitpunkt sei so günstig wie noch nie, denn „Bund, Länder und Gemeinden haben kein Geld mehr.“ Man müsse abwarten, ob die Reformpartnerschaft hier zu Ergebnissen führt.

Länger arbeiten muss sich rechnen

Schwieriger seien Reformen im Bereich der Pensionen. „Ganz sicher nicht“ werde man durch das Heranführen des tatsächlichen an das gesetzliche Pensionsantrittsalter ausreichend Mittel lukrieren, um die Kosten zu dämpfen. Man müsse auch über die Anhebung des Pensionsantrittsalters diskutieren.

Derzeit habe niemand einen Vorteil, wenn er nicht in Pension geht. Schelling schlägt vor, dass jeder, der über das gesetzliche Alter hinaus arbeitet, die normale Vorrückung erhält, aber nur noch den halben Pensionsversicherungsbeitrag zahlt.

Das würde den Pensionsversicherungen mehrere Jahre Auszahlung sparen, die Beschäftigten würden über ihre gesamte Lebenserwartung gerechnet aber deutlich mehr Geld herausbekommen.

Mehr Pension durch zweite und dritte Säule

Entscheidend werde es im Zusammenhang mit den Pensionen auch sein, den Menschen zu kommunizieren, dass sie durch betriebliche und private Vorsorge mehr erhalten: „Das ist der Sicherheitsgedanke auch bei den Pensionen: Am Schluss muss es mehr sein.“

Man müsse die Produkte kreativ neu andenken: „Wir werden die betriebliche Vorsorge nicht hinaufbringen, wenn wir nicht neue, kreative Ansätze machen.“ Das Verlassen eingefahrener Strukturen sei zwingend erforderlich, um Reformen durchzuführen.

Was bei den Pensionen völlig unterschätzt werde, ist die Zahl der gesunden Lebensjahre, so Schelling. Hier liege Österreich im letzten Drittel Europas. „Wir brauchen wieder Eigenverantwortung“, auch bei der Gesundheit, andernfalls werden die Reformen ins Leere gehen.

Und bei privater Vorsorge müsse es „zwingend“ einen nachhaltigen steuerlichen Anreiz geben: „Da geht es nicht um wahnsinnig viel Geld, aber die Menschen werden es nur tun, wenn ein Anreiz da ist“, sagt Schelling. Ebenso wichtig sei aber auch ein Sicherheitsnetz.

Pflege wird zum „furchtbaren Thema“

Schließlich gehe es im Sozialbereich auch noch um Pflege: „Ich glaube, dass die Pflege ein furchtbares Thema wird.“ Die Anzahl der Menschen, die Pflege brauchen, nehme rapide zu, es gehe nicht nur um einen Mangel an Pflegekräften, sondern vor allem auch um Leistbarkeit.

Einerseits müsse man sich Gedanken über eine Pflegeversicherung machen – in Deutschland gebe es eine Kombination von Kranken- und Pflegeversicherung –, andererseits müsse man auch darüber nachdenken, wie man die häusliche Pflege attraktiviert.

Auch bei der Pflege würden wir wissen, was demografisch passiert, aber nichts tun. Hier sollten auch private Anbieter etwas kreativer sein und überlegen, Modelle für pflegende Angehörige zu entwickeln: „Da sind alle gefordert.“

Absichern, nicht zerstören

In den drei großen Bereichen – Gesundheit, Pensionen und Pflege – dürfe die Politik nicht an ihrer Misserfolgsvermeidungsstrategie festhalten: „Nichtstun geht auf keinen Fall“, die Reformschritte müssen mutig, aber nicht übermütig angegangen werden.

Die Politik wäre gut beraten, wenn sie für diese drei Bereiche Experten Modelle ausarbeiten lässt, wie man die Probleme lösen kann. Aufgabe der Politik sei es, Strukturen zu schaffen, die für die Zukunft die Systeme absichern. Es gehe um Absicherung, nicht um Zerstörung der Systeme.

Kleine Schritte seien dabei genauso wichtig wie die große Reform, so Schelling abschließend.

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Gesundheitsreform · Pension  · Pflegeversicherung · Sozialversicherung
 
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